Die Großmütter
Johanna "Hanni" Lodovica "Wicki"
Noch vierzig Jahre später sollte sie sich
daran erinnern, dass sie vergessen hatte die Hühner zu füttern, bevor sie sich
mit dem Wenigen, das ihr gehörte, aber mit einem Bankert im Bauch, oder, wie
der Herr Pfarrer in der Beichte gesagt hatte: mit der Frucht deiner Unzucht,
Hanni! zum Zug nach Klagenfurt aufmachte. Der Herr Vater wird mich totschlagen
– die Viecher kommen vor die Leut` mitm Essen, das hatte sie gelernt. Aber
auch: Sei du mir ja anständig, wir sind hier wer im Ort!
Und so fand sich Hanni, zwölftes Kind des
Großbauern Skina und unverzichtbare Arbeitskraft auf dem Hof, auf dem Bahnsteig
wieder, in der Tasche eine Fahrkarte nach Kühnsdorf in Unterkärnten, zu ihrer
ältesten Schwester, der Maltschi.
1924 war die Welt noch in Ordnung, zumindest
auf dem Land und in Kärnten. Und in Ordnung heißt auch, dass alles seine
Ordnung haben muss – da lässt man sich nicht schwängern von einem hergelaufenen
Elektriker aus der Stadt, einem, der keinen Hof hat, einem, der nur deutsch
spricht. Und wenn man sich schon schwängern läßt, dann muss man davongehen.
Nicht bei Nacht und Nebel, da fährt kein Zug nach Klagenfurt. Hanni war zwar in
anderen und unglücklichen Umständen, aber ein vernünftiges Mädel. Zwei fleißige
Hände werden immer gebraucht und ein zusätzliches Maul kann man schon
mitfüttern, hatte die Maltschi endlich zurückgeschrieben. Und komm nur gleich,
weil wenn dir der Vater draufkommt, bist hin.
An die Zugsfahrt konnte sie sich später kaum
erinnern, sie wird wohl geschlafen haben bis Klagenfurt, und gerade rechtzeitig
zum Postbus nach Kühnsdorf gekommen sein. Auch an die Feldarbeiter konnte sie
sich nicht erinnern, obwohl sie an ihnen vorbeigefahren sein muss, und so sah
sie auch Lodovica nicht, einziges Kind eines ehemaligen Weinhändlers aus
Triest, die 1918 mit ihrer Familie nach Österreich gekommen war, um nicht
Italienerin werden zu müssen.
1924 war die Welt nicht mehr in Ordnung,
schon gar nicht für Lodovica. Der Vater hatte alles verloren, sie arbeitete mit
ihren vierzehn Jahren auf dem Feld und verstand außer ihrem Schulitalienisch nur
das häusliche Slowenisch.
Bis sie mit sechzehn eine Stelle als Köchin
in einer Bäckerei fand, hatte sie fürs Leben gelernt: sprich nie in der
Öffentlichkeit slowenisch, sag immer ja, gnädige Frau und ja, gnädiger Herr,
und wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.
Vielleicht haben sie einander doch gesehen,
für einen Augenblick, die sechzehnjährige Hanni in ihrem guten Sonntagsgewand,
dem einzigen, und die vierzehnjährige Lodovica mit ihren nackten Beinen und der
blauen Schürze. Die da hat´s gut, hätten sie denken können, im selben
Augenblick, und hätten geseufzt und so wären sie einander damals schon, in
diesem einen gemeinsamen Gedanken, begegnet.
Vom Postbus waren es noch fünf Kilometer bis
zum Hof der Maltschi, die gingen sich leicht mit dem wenigen Gepäck. Und dann
auf den Hof und hinein in die Kuchl, wo die Maltschi das Saufutter rührte: „So,
bist also da, da setz di hin. Plärr´ doch nit, i bitt di!“
So wurde Hanni von der Magd ihres Vaters zur
Magd ihrer Schwester und gebar eine Tochter.
Auf keinen der Briefe, die sie Robert, dem
Vater ihrer Tochter geschrieben hatte, bekam sie Antwort.
Am nächsten Kirchtag tanzte sie. Ihr Tänzer
schenkte ihr ein Haarband und später einen Sohn. Sieben Jahre später war sie
immer noch ledig und Magd. Über diese Zeit hat sie beharrlich geschwiegen, auch
über die Art der Beziehung, die sie zum Vater ihres zweiten Kindes hatte – aber
er war anwesend, als sie beerdigt wurde: ganz hinten stand er, weit hinter
ihrem Ehemann, ihren Kindern und Enkelkindern.
Und sieben Jahre war ihr späterer Ehemann
auf der Suche nach ihr, ihre Briefe hatten ihn nicht erreicht und die
Bauersleute sprachen beharrlich slowenisch und waren plötzlich keines deutschen
Wortes mehr mächtig.
Wie er sie fand, oder ob doch sie ihn fand,
davon gibt es mehrere Versionen. Sie selbst hat mir keine davon je erzählt. Ihre
älteste Tochter, die Tante Theres, erzählt gern die romantische Version: Mein
Großvater sei damals schon Berufssoldat gewesen („Feldwebel, weißt du!“) und
sei mit seiner Kompanie zufällig durch die Straße geritten („Ein fescher Mann
war er damals, auf seinem Pferd, mit einem Säbel“) in der meine Großmutter
damals wohnte. Dort habe er erstmals seine Tochter gesehen und endlich seine
große Liebe wieder gefunden. (Ich traue ihrer Erinnerung nicht. Sie hält den
Bund Deutscher Mädel immer noch für eine wunderbare Einrichtung).Gesichert ist nur,
dass sie heirateten und 1932 mein Vater zur Welt kam.
Lodovica war außer sich: die Wahrsagerin
hatte ihr die Karten geschlagen und ihr einen guten, braven Mann versprochen.
Sie stand täglich um vier auf, kochte drei Mahlzeiten für die sechzehn
Angestellten der Bäckerei und sparte
sich ihre Aussteuer zusammen. Max, der Fahrer der Bäckerei, grüßte sie jeden
Tag, obwohl sie nur „das Küchenmensch“ war. Er war fleißig, lustig, bei den
Bäckern beliebt und soff nicht all zu sehr. So nahm sie ihn und sie bauten sich
ein Häuschen.
1939 war sie im siebten Monat schwanger als
Max bei einem Unfall unter dem Bäckereiauto verbrannte. Lodovica gebar eine
Tochter und begann wieder zu arbeiten.
Auf dem Bahnhofspostamt, werktags von sieben Uhr früh bis sechs am Abend, und samstags
von sechs bis zwölf. Sie heiratete nie wieder, betrat außer bei unvermeidlichen
Begräbnissen und Hochzeiten keine Kirche mehr und trat den sozialistischen
Gewerkschaftern bei. Das Schulgeld für die Ursulinen sparte sie sich vom Mund
ab. So lernte meine Mutter beten, arbeiten und kuschen, wovon sie nur ersteres
im Laufe ihres Lebens aufgab. Slowenisch und Italienisch lernte sie nie,
Lodovica weigerte sich beharrlich, ihrer Tochter diesen Makel weiterzugeben.
Hanni hatte es gut. Wie man das so leichthin
am Land sagt. Ihr Mann schlug sie nie, schaute keinen anderen Weibern nach und
kam immerhin häufig sofort nach Ende seines Dienstes nach Hause. Er soff und
spielte Karten mit den anderen Unteroffizieren, bekam aber als Berufssoldat
genug Sold, damit alle drei Kinder „etwas Ordentliches“ lernen konnten.
Dann kam der Krieg.
(In meiner Erinnerung sehe ich die Schachtel
unter seinem Bett, die für mich verboten war.
Orden, ein Dolch und ein Bild eines Pferdes waren darin. Er antwortete
nie auf meine Fragen. Nur die Orden habe
ich 20 Jahre später auf seinem Begräbnis wieder gesehen. Auf einen Polster
gesteckt und feierlich von einem jungen Rekruten hinter dem Sarg hergetragen.)
Als er nach Kriegsende in den Postdienst
übernommen wurde, zogen sie in eine Dienstwohnung direkt über dem
Bahnhofspostamt. Überzeugt christlichsozial und evangelisch wurde gearbeitet,
gespart, die Kinder hatten es zu etwas zu bringen – und sich nicht mit dem
roten Gesindel abzugeben. Hanni durfte keinesfalls slowenisch sprechen, nicht
mit ihren Geschwistern und schon gar nicht mit ihren Kindern, das duldete mein
Großvater nicht.
Sie müssen einander öfter gesehen haben,
Hanni und Lodovica. Hanni beim Aufgeben eines Briefes an eine ihrer Schwestern,
wie immer in einem dunklen Rock und ordentlicher Bluse, und Lodovica hinter dem
Schalter, im blauen Dienstmantel. Wer weiß, was sie sich gedacht haben.
Ich kann sie nicht fragen, Hanni ist schon
lange tot und Lodovica verwechselt zunehmend Jahre und Sprachen.
Kennen gelernt haben sie einander Jahre
später auf dem Postball, denn dort gingen die Roten und die Schwarzen
gleichermaßen hin.
Ich erinnere mich an die langwierigen und
komplizierten Familienstreitigkeiten um Politik und Kindererziehung.
Und an meine Großmütter, die heimlich über
den Tisch slowenisch flüstern, in ihrer eigenen Geheimsprache, die außer ihnen
niemand mehr in der Familie versteht.